Leseprobe
Flüchtlingskind
Lodz/Litzmannstadt, November 1944
Emma nahm ein weiteres Holzscheit und legte es auf die acht, die sie bereits in den Armen hielt. Dann richtete sie sich auf und ging zurück zu dem Häuschen, das sie und ihre Familie ihr Eigen nannten.
Sie schob die angelehnte Tür mit dem Fuß auf und trat in die gemütliche Stube mit dem großen gusseisernen Ofen an der Wand zur Küche. Es war der kälteste Winter, an den sie sich erinnern konnte, und es wurde immer schwieriger, Brennholz zu kaufen. Zum Glück hatte ihr Mann in weiser Voraussicht bei seinem letzten Fronturlaub besonders viel Holz gehackt. Wie jedes Mal, wenn sie an Herbert dachte, zog sich ihr Herz zusammen. Irgendwo da draußen kämpfte er in diesen arktischen Temperaturen gegen die Russen.
„Mutti, komm und spiel mit uns“, rief ihr Sohn Jakob. Sein Haar war vom Schlaf zerzaust, als er die Treppe herabkam. Ihr Jüngster war vier und das Ebenbild seines Vaters: blondes Haar, blaue Augen und diese entzückenden Grübchen in den Wangen.
„Geh dich anziehen, das Frühstück ist fast fertig“, antwortete Emma. „Wo ist deine Schwester?“
„Ich komme schon.“ Sophie folgte ihrem Bruder in einem dunkelblauen knöchellangen Kleid und Wollstrümpfen die Treppe herab. Sie war drei Jahre älter als Jakob und Emmas Stütze in diesen schweren Zeiten. Mit ihrer fleißigen, ernsthaften und gehorsamen Art war sie sehr reif für ihr Alter.
„Deckst du bitte den Tisch?“
Pflichtbewusst ging Sophie in die Küche. Emma beobachtete, wie ihre Tochter sich an die Arbeit machte, während sie selbst Holz in den Ofen schichtete. Irgendetwas musste geschehen, denn die Situation wurde von Tag zu Tag beunruhigender. Gerüchte über die abscheulichen Verbrechen der russischen Soldaten machten die Runde. Emma hatte nicht nur um sich selbst Angst, sondern vor allem um Sophie, ein hübsches blondes Mädchen, das viel zu jung und unschuldig für das war, was sie womöglich erwartete. Während Emma das Feuer entfachte, dachte sie über ihre Optionen nach. Viele gab es nicht.
„Mutti, wo sind meine Strümpfe?“, meldete sich Jakob von oben.
Wenn ihr Sohn doch nur genauso ordentlich wäre wie ihre Tochter. „Schau mal unter deinem Bett nach“, rief sie und bat Sophie: „Gehst du bitte nach oben und hilfst deinem Bruder?“
„Er sollte langsam lernen, aufzuräumen, er ist doch kein Baby mehr.“
Wenn Jakob eine Miniaturkopie seines Vaters war, so kam Sophie nach ihrer Mutter, der sie nicht nur im Aussehen glich; Sophie imitierte auch Emmas Redeweise und ihr Verhalten bis hin zum Stirnrunzeln.
„Ich weiß, aber er ist doch noch so klein. Bitte kümmere dich um ihn, ich muss das Frühstück machen.“
Kaum trottete Sophie nach oben, klopfte es an der Tür. Emma wunderte sich, wer zu so früher Stunde zu Besuch kam.
„Emma, bist du da?“
Sie erkannte die Stimme und öffnete ihrer hochschwangeren Freundin. „Luise, komm rein. Wo ist denn Hans?“ Luises Sohn Hans war Jakobs bester Freund.
„Der ist zu Hause bei meiner Schwiegermutter geblieben. Ich muss kurz mit dir reden.“ Der dringliche Unterton in Luises Stimme ließ bei Emma die Alarmglocken schrillen.
„Was ist denn so wichtig, dass du schon vor dem Frühstück bei diesem scheußlichen Wetter vorbeikommst?“ Es hatte über Nacht geschneit. Ein steifer Nordwind blies durch die offene Tür und stach auf Emmas Wangen.
„Hast du schon das Neueste über die Russen gehört?“, fragte Luise, während Emma das Feuer schürte.
„Heute noch nicht. Wo stehen sie inzwischen?“ Die Frontlinie rückte schnell näher und trotz des strikten Fluchtverbots hatten viele ihrer Freunde und Nachbarn bereits ihre Häuser verlassen, um im Altreich ihr Glück zu suchen. Alle waren sich darin einig, dass es besser war, den Amerikanern, Briten oder sogar den Franzosen in die Hände zu fallen als den Russen. Sie und Luise hatten unzählige Male darüber gesprochen, ihre Sachen zu packen und gen Westen zu ziehen. Doch da keine von ihnen dort nahe Verwandte hatte, die sie aufnehmen konnten, hatten sie den Plan bisher nicht in die Tat umgesetzt.
„Sie kommen schnell näher. Es scheint nur noch eine Frage von Tagen zu sein, bis sie hier sind.“
„Oje. Komm und erzähl mir alles in der Küche.“ Emma warf ihrer Freundin einen warnenden Blick zu, damit diese nicht ins Detail ging, solange Sophie sie hören konnte. Sobald sie die Küchentür hinter sich geschlossen hatte, berichtete Luise von den Neuigkeiten, während Emma den Haferbrei anrührte.
„Es klingt nicht gut. Angeblich ist die Rote Armee keine fünfzig Kilometer entfernt, und die Wehrmacht zieht sich schnell zurück. Obwohl unsere Männer tapfer kämpfen, können sie den Iwan nicht mehr lange aufhalten. Es scheint, als würden für jeden getöteten Russen zehn neue auftauchen. Ich weiß beim besten Willen nicht, wo sie die alle hernehmen.“
„Na ja, die Sowjetunion ist ungeheuer groß. Das Land reicht bis weit hinter den Ural, sogar bis zur Pazifikküste. Ich schätze, sie können jederzeit neue Soldaten aus diesen abgelegenen Regionen rekrutieren.“
Luise seufzte. „Auf jeden Fall ist es so, dass meine Schwiegermutter eine Cousine zweiten Grades ausgegraben hat, die in Aachen lebt. Wir wissen nicht einmal, ob sie noch lebt, aber Agatha besteht darauf, dass wir zumindest versuchen, diese Cousine ausfindig zu machen.
„Dann wollt ihr Lodz wirklich verlassen?“ Emma spürte einen heftigen Stich im Herzen. Lodz war ihre Heimat sowie die ihrer Eltern und Großeltern zuvor. Sie hatte nie an einem anderen Ort gelebt.
In dieser Stadt, von der keiner mehr wusste, wie oft sie im Laufe ihrer bewegten Geschichte den Besitzer gewechselt hatte, hatten Polen und Deutsche über Jahrhunderte mehr oder weniger friedlich miteinander gelebt und gearbeitet. Im sogenannten Manchester Polens hatte die blühende Textilindustrie für den Reichtum der meist jüdischen Industriellen sowie für Arbeitsplätze der Stadtbevölkerung gesorgt.
Die guten Zeiten hatten bis zum Ende des Weltkrieges angedauert, als ihre geliebte Heimatstadt mit dem Vertrag von Versailles der neugegründeten Republik Polen, auch Zweite Polnische Republik genannt, zugesprochen worden war.
Fortan hatten die Polen Vergeltung geübt und das Leben der damals erst fünfjährigen Emma hatte sich für immer verändert. Vorbei waren die sorglosen Zeiten mit hübschen Kleidchen und ausgelassenen Geburtstagsfeiern. Stattdessen konnte sie sich nur noch an die trübselige Stimmung erinnern sowie an die ständigen Probleme, die in der Hyperinflation von 1923 gipfelten und den Niedergang der einst blühenden Textilindustrie nach sich zogen. Eine wahrlich schwere Zeit.
Sie hatte geheiratet und gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht, als sich das Blatt erneut wendete. Es schien, als wäre das Schicksal Lodz endlich wieder freundlich gesonnen. 1939 holte Hitler den Reichsgau Wartheland, zu dem Lodz gehörte, heim ins Reich. Die jüdischen Blutsauger wurden vertrieben und alle wichtigen Stellen mit anständigen Deutschen besetzt.
Emma lächelte bei der Erinnerung an die fröhlichen Feiern. Die halbe Stadt hatte auf der Straße getanzt und gesungen, nachdem die Wehrmacht sie vom polnischen Joch befreit hatte. Ihr Mann Herbert hatte sie ausgeführt und herumgewirbelt, bis sie atemlos in seine Arme gefallen war
. „Jetzt wird alles besser für uns“, hatte er ihr versprochen und recht behalten.
Lodz wurde in Litzmannstadt umbenannt und entwickelte sich zum Zentrum der Kriegsproduktion von Textilien für Hitlers Drittes Reich. Die Menschen hatten wieder Arbeit und konnten sich – anders als in den harten Zwischenkriegsjahren – einen bescheidenen Luxus leisten.
So seltsam es klingen mochte, für Emmas Familie war der Krieg ein Segen gewesen, zumindest zu Beginn. Ihr Blick fiel durchs Fenster auf das baufällige Häuschen ihrer Nachbarn, das einem polnischen Ehepaar gehörte. Sie hatten nicht getanzt, als die Stadt befreit worden war.
Für sie war es kein Segen, und deshalb verabscheuten sie die Deutschen. Kein Wunder, denn unter der Naziherrschaft wurden sie unterdrückt; jetzt erwarteten sie freudig die Befreiung durch die Rote Armee. So vieles hatte sich in den vergangenen fünf Jahren verändert. Würden ihre Nachbarn bald diejenigen sein, die ausgelassen feierten?
Luises Stimme unterbrach Emmas Gedankengänge. „Es wird nicht einfacher werden, je länger wir warten. Nach dem Krieg, wenn sich alles beruhigt hat, können wir zurückkommen.“
Tief in ihrem Herzen zweifelte Emma daran, dass diejenigen, die gingen, jemals zurückkehrten. „Vielleicht hast du recht. Aber wie sollen wir es anstellen? Und wie sollen unsere Männer uns finden?“ Luises Ehemann Gustav war genauso wie Herbert bei der Wehrmacht. Keine der beiden Frauen wusste, wo genau sie kämpften.
„Wir können ihnen mit der Feldpost schreiben.“
„Können wir.“ Emma zweifelte daran, dass die Feldpost noch zuverlässig arbeitete, nickte jedoch. Was blieb ihnen auch anderes übrig?
„Und von wegen, wie wir es anstellen sollen … Hast du gehört, dass Marianne mit ihren Kindern aufbricht?“
„Nein, wann?“
„Morgen früh.“
„Wirklich? Aber wie?“ Da der Statthalter es jedem strengstens verboten hatte, die Stadt aus Feigheit vor dem Feind zu verlassen, durften nur Soldaten und gelegentlich hochrangige Zivilisten mit gültiger Reiseerlaubnis die Züge Richtung Westen besteigen.
„Pass auf.“ Luise senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Sie will sich fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt mit einem großen Treck von weiter östlich treffen. Die Leute haben Pferdewagen und sind einverstanden, sie gegen Bezahlung mitzunehmen. Du weißt schon, je größer die Gruppe, desto geringer die Gefahr, überfallen zu werden.“
„Ich hätte nie gedacht, dass Marianne fliehen würde.“ Emma war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Mariannes Beispiel zu folgen, und zu Hause zu bleiben, in der Hoffnung, dass die Russen schon nicht so schlimm waren, wie alle sagten.
„Mutti? Der Tisch ist fertig gedeckt.“ Sophie steckte den Kopf in die Küche und Emma nahm sich die Zeit, ihre Tochter genau zu betrachten. Mit ihren sieben Jahren war sie in diesem Herbst in die zweite Klasse gekommen. Ihr Gesichtchen war schmal, weil sie nicht genug zu essen bekam. Dennoch war sie ein hübsches Mädchen mit ihren großen blauen Augen, den weich geschwungenen Lippen und den zwei blonden Zöpfen.
„Dann ruf deinen Bruder, der Brei ist gleich fertig.“ Sie warf Luise einen um Entschuldigung heischenden Blick zu und rührte noch einmal um, bevor sie den Topf vom Herd nahm. „Geht ihr auch mit?“
Luise wand sich unbehaglich. „Noch nicht. Aber meine Schwiegermutter … Lass uns lieber ohne neugierige Ohren darüber sprechen.“
„Gut, ich komme später rüber.“
„Wir müssen heute Nachmittag Besorgungen erledigen.“
„Dann komme ich vor dem Mittag. Bis bald.“ Emma umarmte ihre Freundin, bevor sie in die Stube eilte, wo ihre Kinder schon am Tisch saßen und auf das Frühstück warteten. Sie liebte die beiden von ganzem Herzen. Während Sophie ihr eine große Hilfe bei der Hausarbeit war, war Jakob ein kleiner Wirbelwind, der selten tat, was man ihm sagte. Mit seinem niedlichen Aussehen eroberte er jedoch alle Herzen. Sein strahlendes Lächeln gepaart mit einem verschmitzten Blick seiner blauen Augen genügte, dass Emma vor Rührung zerfloss. Sie wusste nur zu gut, dass sie strenger mit ihm sein musste, aber er war ein so süßes Kind und noch so klein.
„Mutti? Können wir jetzt essen? Ich hab Hunger“, wollte Jakob wissen.
Emma schob ihre Sorgen beiseite und setzte ein Lächeln auf. „Ich bin schon da.“ Sie setzte sich zu den beiden und teilte drei gleich kleine Portionen Haferbrei in ihre Schälchen aus, was ihr einen verdrossenen Blick von Sophie einbrachte. Es gab nie genug, um den Hunger ihrer Kinder zu stillen. Zudem machten beide gerade einen Wachstumsschub durch und waren ununterbrochen hungrig wie ein Rudel Wölfe.
Nach dem Frühstück kamen die zwei zu ihr in die Küche. Sophie half beim Abwasch, während Jakob mit seinen Bauklötzen spielte.
„Können wir draußen im Schnee spielen?“, fragte er.
„Vielleicht später. Zuerst gehen wir zu Hans und Luise. Hast du Lust?“
„Ja! Ja!“ Jakob hopste ausgelassen auf und ab. Dabei warf er seine Klötzchen um, sodass sie sich auf dem Küchenfußboden verteilten. Statt sie aufzusammeln, fing er an, seine Schuhe anzuziehen. Am Abend zuvor hatte Emma sie mit Zeitungspapier ausgestopft und zum Trocknen neben den Ofen gestellt.
„Jakob, räum erst deine Spielsachen weg!“ Sie versuchte, streng zu klingen.
„Ich will nicht. Warum muss ich immer aufräumen? Ich will später damit weiterspielen.“
Emma musste zugeben, dass seine Worte eine gewisse Logik enthielten, und konnte nur mit Mühe das Lächeln unterdrücken, das sich auf ihrem Gesicht breitmachen wollte. Jakob war ihr kleiner Sonnenschein. Ohne ihn wären all die Entbehrungen noch schwerer zu ertragen. Nicht einmal Sophie war in der Lage, sie all ihre Sorgen vergessen zu lassen – das konnte nur Jakob.
Bei der Vorstellung, was ihren wunderbaren Kindern zustoßen mochte, schmerzte Emma das Herz. Schnell schob sie die verstörenden Bilder beiseite, um kühl abwägen zu können, was die beste Vorgehensweise war: zu bleiben oder zu gehen.
Was auch immer sie taten, es lagen schwere Zeiten vor ihnen. Deshalb nahm sie jetzt so viel Freude wie möglich in sich auf, um später davon zu zehren, wenn sie ihre Kräfte brauchte, um heil aus dem Schlamassel herauszukommen.