Leseprobe
Unaufhaltsamer Abstieg ins Chaos
München, November 1923
Edith Falkenstein erwachte frühmorgens und stellte fest, dass ihr Ehemann Julius wieder einmal nicht zu Hause geschlafen hatte, denn sie konnte sein Schnarchen im angrenzenden Zimmer nicht hören.
Sie blickte zum klaren blauen Himmel, der durch die Vorhänge blitzte, und seufzte. Julius hatte die Angewohnheit, sich in die Arbeit zu stürzen. Aufgrund der grassierenden Hyperinflation wurde er rund um die Uhr in der Falkenstein Bank gebraucht.
Ein weiterer Seufzer entschlüpfte ihrer Kehle. Trotz all ihres Wohlstands spürte sogar sie die Trostlosigkeit, die von der deutschen Bevölkerung Besitz ergriff. Nach der Niederlage im Weltkrieg war das Land in eine Abwärtsspirale geraten, bis niemand mehr Arbeit zu haben schien. Bettler und Kriegsversehrte säumten die Straßen des einst reichen und schönen Münchens.
Edith läutete das Glöckchen auf dem Nachttisch, und wenige Augenblicke später erschien das Dienstmädchen Laura in einem schwarzen Kleid mit gestärkter Schürze und weißem Häubchen. Wenigstens ein paar Dinge hatten sich nicht geändert.
Laura knickste. „Gnädige Frau wünschen?“
Edith hatte lange gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, von Dienstboten umgeben zu sein und stets so förmlich angeredet zu werden. Anders als ihr fünfzehn Jahre älterer Gatte, ein reicher und mächtiger Mann, der einer langen Ahnenreihe von Kaufleuten und Bankeigentümern entstammte, war sie als Tochter eines Grundschullehrers am Stadtrand von Berlin aufgewachsen. Nach ihrer Hochzeit vor fünf Jahren war sie Julius nach München gefolgt, weit entfernt von Freunden und Familie.
„Bitte bringe mir einen Kaffee und sage dem Fahrer, er soll das Auto polieren, weil ich später meinen Bruder vom Bahnhof abholen möchte.“
„Sehr gern, gnädige Frau.“ Laura war ein fleißiges Mädchen, in vielfältigen Hausarbeiten bewandert, und eine gläubige Christin. Edith und Julius waren nur auf dem Papier evangelisch und gingen selten, wenn überhaupt, in die Kirche.
„Hat Herr Falkenstein sich gemeldet?“ Sie nannte den Dienstboten gegenüber ihren Mann immer nur beim Nachnamen.
„Er hat um etwa drei Uhr in der Nacht angerufen, dass er in der Bank aufgehalten wurde und der Fahrer ihn zum Frühstück abholen möge“, sagte Laura. „Wenn Sie sich eine Stunde gedulden, können Sie mit ihm speisen.“
„Danke, dann werde ich warten. Aber bringe mir den Kaffee bitte sofort.“ Auch wenn sie nicht viel vom Geschäft verstand, so wusste Edith doch, dass Julius um das Überleben seiner Bank kämpfte. Dennoch wünschte sie, er würde mehr Zeit mit ihr verbringen.
Seit ihrem Umzug nach München hatte sie kaum Freundschaften geschlossen. Wenn sie ehrlich war, langweilte sie sich fürchterlich. Als Tochter eines Lehrers war sie nie untätig gewesen – bis zu ihrer Hochzeit mit Julius. Mit einem Schlag war sie von unzähligen Dienstboten umgeben, die ihr alle Wünsche von den Augen ablasen.
In Berlin hatte sie wenigstens ihre Freundinnen gehabt. Hier jedoch waren die Tage unendlich fad. Sie konnte nun mal nicht unendlich viel Zeit mit einkaufen totschlagen, vor allem nachdem kaum noch etwas in den Schaufenstern der glamourösen Maximilianstraße ausgestellt wurde.
In diesen ungewöhnlichen Zeiten schwang das Pendel zwischen dem verzweifelten Drang, das Gehalt auszugeben, bevor es seinen Wert verlor, und der Tatsache, gar nichts kaufen zu können, weil das Geld nicht das Papier wert war, auf dem es gedruckt wurde.
Eine Stunde später kam Julius nach Hause. Sie hörte den Motor des Wagens, lange bevor sie durch das Fenster seinen Mercedes die Einfahrt entlang auf ihre wunderschöne Villa zufahren sah. Sie wohnten direkt neben dem Englischen Garten in der Nähe des Münchner Stadtzentrums.
Edith blickte in den Spiegel, um sich zu vergewissern, dass sie adrett aussah. Eine Angewohnheit, die Julius nicht nur um seiner selbst willen schätzte, sondern auch, weil er oft unangekündigte Gäste mitbrachte.
„Guten Morgen, Julius“, begrüßte sie ihn, da er ihr schon vor Langem erklärt hatte, dass sie ihn nicht mit Liebling oder anderen Kosenamen in der Öffentlichkeit anreden sollte. Wobei er auch die Angestellten als Öffentlichkeit betrachtete.
„Guten Morgen, Edith.“ Er warf ihr einen müden Blick aus rot geränderten Augen zu. „Was gibt es zum Frühstück?“
„Ich habe die Köchin gebeten, Rührei für dich zu machen und natürlich Kaffee.“
„Leistest du mir Gesellschaft?“, fragte er mit einem liebenswürdigen Lächeln.
Sie nickte. „Natürlich. Ich habe mit dem Essen auf dich gewartet und bisher nur einen Kaffee getrunken.“
„Du siehst heute Morgen bezaubernd aus. Hast du gut geschlafen?“
„Ja, danke“, log sie. Sie wollte ihn nicht wissen lassen, dass sie mehrfach aufgewacht war und gelauscht hatte, ob er nach Hause kam.
Er legte ihr die Hand auf den Rücken und führte sie ins Esszimmer, wo das Dienstmädchen bereits dampfenden Kaffee sowie zwei Teller mit Rührei und jeweils einer dick gebutterten Scheibe Brot aufgetragen hatte.
„Wie war die Arbeit?“, fragte Edith, nachdem sie sich gesetzt hatten.
„Anstrengend. Mit dieser Inflation hat die Regierung uns mit dem Rücken zur Wand getrieben. Du glaubst gar nicht, wie viele Menschen jeden Morgen durch die Eingangstore stürmen, um das gesamte Geld, das über Nacht auf ihren Konten eingegangen ist, abzuheben, weil sie fürchten, dass es bereits am selben Abend nichts mehr wert ist. Das bringt unseren Bargeldbestand ans Limit und wir können die Banknoten mit den aufgedruckten neuen Denominationen kaum schnell genug beschaffen. Ich musste sogar zusätzliche Wachmänner einstellen, falls die Kunden unseren Schalterangestellten gegenüber gewalttätig werden.“
„Kannst du denn gar nichts tun?“ Sie nahm eine winzige Gabel voll Rührei, wie ihre Schwiegermutter es ihr während der neunmonatigen Verlobungszeit beigebracht hatte. Damals hatte Edith im Haus ihrer Schwiegereltern auf der Schwanenwerder Insel in Berlin gewohnt, damit sie sich auf ihre gesellschaftlichen Pflichten vorbereiten konnte.
Frau Falkenstein senior war eine strenge Lehrmeisterin gewesen; sie hatte Edith jedes noch so kleine Detail eingebläut, wie sich eine Dame der feinen Gesellschaft zu benehmen hatte. Edith hatte sich nie beschwert. Sie und Julius waren sehr verliebt gewesen und sie hatte jeden Rat begierig aufgesogen, um eine perfekte Ehefrau zu werden und ihn stolz zu machen.
Julius blickte sie nachsichtig an. „Das ist nicht so einfach, wie es aussieht. Die Falkenstein Bank hat die Pflicht, all ihren Kunden gleichermaßen zu dienen. Zumindest ist das der Auftrag der Regierung. Doch wenn eben diese Regierung uns nicht mit ausreichend Bargeld versorgt, um den Bedarf der Öffentlichkeit zu decken, bringt uns das in Bedrängnis.“
Edith kannte seine Abneigung gegen den früheren Reichskanzler Wilhelm Cuno, dessen Streikaufruf wegen der Reparationen nach der Niederlage im Weltkrieg das Land in den Ruin getrieben hatte. Vor drei Monaten war Cuno durch Gustav Stresemann abgelöst worden. „Ist der neue Kanzler dieses Problem nicht angegangen?“, fragte Edith.
„Hm“, meinte Julius verächtlich, „der ist zu nichts zu gebrauchen. Bei einem kommunistischen Staatsstreich letzten Monat hätte er beinahe sein Amt verloren. Kannst du dir das vorstellen? Ausgerechnet die Kommunisten?”
“Edith machte sich innerlich auf einen Vortrag über die bösen Kommunisten gefasst, die Julius als wohlhabender und mächtiger Bankbesitzer von Haus aus verabscheute.
„Himmel, ich habe keine Ahnung, wieso alle unsere Politiker ein Haufen korrupter Schwächlinge ohne einen Funken Verstand sind!“, platzte er heraus.
„Vielleicht solltest du in die Politik gehen“, schlug sie vor.
„Das sollte ich.“ Die Idee schien ihm zu gefallen. „Aber wer wird dann die Falkenstein Bank leiten? Vater ist zu alt und ich bin der einzige Sohn.“
Julius hing sehr an seinen jüngeren Schwestern Adriana und Silvana. Besonders Silvana, eine temperamentvolle Frau, die sich von niemandem etwas vorschreiben ließ, vergötterte und verwöhnte er. Dennoch war es für ihn undenkbar, dass eine von ihnen das Familiengeschäft übernahm, sogar wenn sie das gewollt hätte.
„Und deine Schwäger?“
Er schüttelte den Kopf. „Sie sind beide gute Männer, aber Florian hat mit seiner Gummifabrik genug zu tun, und Markus hat nicht das Zeug, ein Unternehmen zu führen.“
Edith lächelte. Markus Lemberg zog die schönen Künste vor. Er war ein gefeierter Autor sowie Professor für Literatur an der Universität in Berlin. „Dann vielleicht einer meiner Brüder?“
„Nimm es bitte nicht persönlich, Edith, aber deine Brüder kommen aus dem Bürgertum und haben keine Ausbildung in Sachen Geschäftsführung. Sie müssten eine Menge lernen, bevor man sie mit einer solch diffizilen Aufgabe betrauen kann.“
Er leerte seinen Teller und klingelte, damit das Dienstmädchen ihm einen Nachschlag brachte. Nachdem Laura wieder gegangen war, fügte Julius hinzu: „Was unser Land braucht, ist ein starker und aufrechter Mann, dem das Wohl des Volkes am Herzen liegt. Jemand, der sich nicht herumschubsen lässt von Kommunisten, Separatisten und wer sonst noch unsere Nation mit seinen untauglichen Ideen in den Bankrott führt. Vielleicht jemand wie dieser Hitler, wobei ich nicht weiß, wie er mit seinen extremen Ansichten erfolgreich sein will.“
Edith wollte nichts mehr über diesen vermeintlichen Retter hören, der erst kürzlich in den Deutschen Kampfbund gewählt worden war. In ihren Augen hatte der Mann außer der Verbreitung von Hass nichts zu bieten. Da sie sich nicht in eine politische Diskussion verwickeln lassen wollte, wechselte sie das Thema. „Du erinnerst dich, dass mein Bruder Joseph ein paar Tage zu Besuch kommen wird?“
„Selbstverständlich, mein Liebling. Wann kommt er an?“
„Heute Nachmittag.“ Edith hegte den Verdacht, dass Julius den Besuch vergessen hatte. Er war immer so sehr mit den Problemen auf der Arbeit beschäftigt, dass er solch banale Dinge oft vergaß.
„Ich muss heute Nachmittag ins Geschäft. Aber du kannst den Fahrer haben, um deinen Bruder vom Bahnhof abzuholen. Hast du ein Willkommensessen für heute Abend geplant?“
„Natürlich.“ Edith war für das rege gesellschaftliche Leben der beiden zuständig. Da Julius’ Mutter ihr eingetrichtert hatte, wie wichtig soziale Kontakte in ihren Kreisen waren, nutzte Edith jede Gelegenheit, um Gäste zu bewirten. Die Planung und Organisation solcher Veranstaltungen bereiteten ihr immenses Vergnügen. Julius machte ihr oft Komplimente, wie gut sie diese Aufgabe meisterte und dass ein Großteil seines geschäftlichen Erfolgs auf ihren Bemühungen beruhte, Beziehungen zu einer Vielzahl wichtiger Leute zu pflegen.
„Deine Sekretärin hat es in deinen Terminkalender eingetragen. Der Bürgermeister und einige deiner Geschäftspartner haben ihr Kommen zugesagt.“
Julius strahlte vor Stolz. „Du denkst immer mit. Ich hätte mir keine bessere Ehefrau wünschen können.“
Sie sah die Zuneigung in seinen Augen leuchten. Damals, als er ihr den Hof gemacht hatte, war sie von dem viel älteren Mann mit den tadellosen Umgangsformen und der charmanten Art beeindruckt gewesen. Er hatte ihr seine gesamte Aufmerksamkeit gewidmet, sie mit Geschenken überschüttet und ihr eine völlig neue und aufregende Welt eröffnet. Sogar während der vier langen Jahre, in denen er als Offizier im Weltkrieg gedient hatte, war die Zeit wie im Flug vergangen. Sie hatten herzerwärmende, seelenvolle Briefe ausgetauscht, und an ihrem Hochzeitstag war sie die glücklichste Frau der Welt gewesen.
Doch nach und nach hatte sich das geändert. Ihre leidenschaftliche Liebe war vergangen, und dieser Tage glich ihre Ehe mehr einer Geschäftsbeziehung. Edith fragte sich häufig, ob es anders gewesen wäre, wenn sie ihm den heiß ersehnten Erben hätte schenken können. Doch nach fünf Jahren Ehe war ihr Schoß noch immer unfruchtbar, was sie seinen immer selteneren Besuchen in ihrem Schlafzimmer zuschrieb, nachdem sie zwei Fehlgeburten erlitten hatte.
Sie schob die aufquellende Bitterkeit beiseite. Obwohl sie und Julius sich entfremdet hatten, war er ein anständiger Mann. Andere hätten sich von ihr scheiden lassen und sie durch eine jüngere, fruchtbare Frau ersetzt.
Was hätte sie dann getan? Sie verspürte sicherlich nicht den Wunsch, sich der Armee arbeits-, glück- und mittelloser Bettler auf den Straßen anzuschließen. Eine Ehe ohne Leidenschaft zu führen war ein geringer Preis für die Sicherheit, immer genug zu essen und ein Dach über dem Kopf zu haben.
Sobald sich Julius nach dem Frühstück für ein Nickerchen in sein Schlafzimmer zurückzog, suchte Edith die Küche auf, um dem Personal letzte Anweisungen für den abendlichen Empfang zu geben. Als es an der Zeit war, das Haus zu verlassen, schlüpfte sie in ein zweiteiliges Kostüm aus Wollstoff mit passendem Hut und Handschuhen. Gegen die feuchte Novemberkälte zog sie einen warmen Pelzmantel an, denn so nah an den Alpen konnte es um diese Jahreszeit auch tagsüber recht kühl sein.
Der Fahrer erwartete sie in der riesigen Empfangshalle ihrer Villa in der prestigeträchtigen Königinstraße. Es war nicht weit zum Hauptbahnhof, dennoch zog sie es vor, früh aufzubrechen. Julius’ Mutter hatte ihr eingebläut, dass eine Dame sich niemals verspätete – es sei denn, um einen großen Auftritt hinzulegen.
Da ihren Bruder abzuholen keines Auftritts bedurfte, ließ sie den Fahrer wissen: „Ich bin so weit. Wir können fahren.“
„Jawohl, gnädige Frau.“ Er hielt ihr die Tür auf, doch bevor sie hindurchging, wandte sie sich an die Haushälterin, um letzte Anweisungen zu erteilen, damit das Gästezimmer in tadellosem Zustand für die Ankunft ihres Bruders war.
Joseph war vier Jahre älter als sie, und sie hatte seit sie denken konnte zu ihm aufgesehen. Er war Straßenbahnfahrer in Berlin, wo Ediths Familie lebte. Er war vielleicht ein wenig ungehobelt, sicher nicht die Art von Mensch, mit der sich die Falkensteins normalerweise umgaben, aber er hatte das Herz am rechten Fleck und setzte sich immer für das ein, was er für richtig hielt.
Ihr Vater hatte allen seinen vier Kinder moralische Werte und Ehrlichkeit beigebracht: Joseph, Edith, Carsta und Knut, vom ältesten zum jüngsten.
Der Fahrer eilte voraus, um Edith die Autotür aufzuhalten. Wie üblich wusste er bereits Bescheid über ihre Pläne. „Zum Bahnhof, gnädige Frau?“
„Ja, bitte. Mein Bruder kommt mit dem Nachmittagszug aus Berlin. Es ist sein erster Besuch hier.“ Sie merkte, dass ihre Stimme zu viel Aufregung verriet.
„Minga wird ihm gefallen“, meinte der kräftige Mann, ein gebürtiger Münchner, voll unverhohlenem Stolz über seine Heimatstadt.
„Da bin ich mir sicher.“ Während sie die Ludwigstraße hinabfuhren und dabei an der ehrwürdigen Ludwig-Maximilians-Universität, der Bayerischen Staatsbibliothek sowie anderen berühmten Gebäuden vorbeikamen, betrachtete Edith die Masse von Bettlern. „Die Menschen leiden so sehr“, sagte sie leise zu sich selbst.
„Möchten Sie, dass ich anhalte und den Sichtschutz an Ihrem Fenster schließe?“, fragte der Fahrer hilfsbereit.
„Nein, nein. Ich habe nur heute Morgen in der Zeitung gelesen, dass täglich Dutzende Selbstmord begehen, weil sie nicht mehr weiterwissen.“
Der Fahrer blickte durch den Rückspiegel mit einer unleserlichen Miene zu ihr. „Das ist alles die Schuld der Regierung. Sie hat uns hintergangen, weil sie nach dem Krieg diese ganzen Reparationen bezahlt hat.“
Julius hatte ihr erklärt, dass dies entgegen landläufiger Meinung nicht der wahre Grund der katastrophalen wirtschaftlichen Lage war. Edith hatte jedoch nicht vor, sich mit dem Fahrer zu streiten, der offensichtlich wiederkäute, was er beim Stammtisch in der Bierhalle gehört hatte.
Während ihrer ersten Monate in München hatte Julius sie mehrfach in eine Bierhalle mitgenommen, doch sie mochte den bitteren Biergeschmack genauso wenig wie die lärmende Stimmung. Infolge des Abrutschens der deutschen Nation ins Chaos hatte Julius ihr davon abgeraten, ohne männliche Begleitung Bierhallen zu betreten. Ehrlich gesagt war sie erleichtert darüber.
Als sie am Münchner Hauptbahnhof ankamen, bat sie den Fahrer draußen beim Wagen auf sie zu warten, um einen seltenen Moment Privatsphäre zu genießen. Permanent von Dienstboten umgeben zu sein, hatte sicherlich seine Vorteile, damit einher ging aber auch die Notwendigkeit, unaufhörlich ein bestimmtes Bild von sich zu präsentieren.
Am Bahnsteig erfuhr sie, dass sich der Zug verspätete. Dennoch zögerte sie zum Wagen zurückzugehen. Sollte sich der Fahrer Sorgen machen, würde er hereinkommen und nach ihr suchen. Deshalb entschied sie, sich in das Café am Ende der Bahnsteige zu setzen, von dem aus sie die majestätische Architektur der riesigen Bahnhofshalle bewundern konnte. Außerdem hatte sie einen perfekten Blick auf die Gleise und war doch vor dem Wind geschützt.
Ein Servierfräulein kam in einer zerschlissenen Uniform an ihren Tisch. „Es tut mir leid, wir haben weder Kuchen noch Torte, nur süße Teilchen.“
Edith hatte nicht vorgehabt, etwas zu essen, denn später würde es im Rahmen der Willkommensfeier ein opulentes Abendmahl geben. „Nur einen Kaffee bitte.“
Wohlweislich hatte sie eine Handtasche voller Geldscheine mitgebracht. Trotzdem reichte es kaum, um die Tasse Kaffee zu bezahlen, was ihr mal wieder die grassierende Inflation vor Augen führte. Erst heute Morgen hatte sich Julius über den Mangel an Banknoten beklagt. Noch vor einer Woche hätte sie für dieselbe Summe einen Hut und ein Paar Handschuhe bekommen.
Während sie an ihrem Kaffee nippte, hörte sie einen langen Pfiff, der die Ankunft von Josephs Zug ankündigte. Schnell trank sie aus und ging zum Bahnsteig, wo sie am Gleisende auf ihren Bruder wartete. Massen von Fahrgästen entströmten den Waggons und eilten an ihr vorbei, bis sie ihn endlich ausmachte: einen großen blonden Mann, der die meisten seiner Landsleute um einen halben Kopf überragte.
Er entdeckte sie im selben Augenblick und beschleunigte winkend den Schritt. „Edith! Schön, dich zu sehen.“
Eingedenk der Verachtung, die ihre Schwiegermutter für Gefühlsbekundungen in der Öffentlichkeit empfand, trat Edith einen Schritt zurück, um Josephs ausgestreckten Armen zu entgehen und schüttelte ihm stattdessen die Hand. „Die Freude ist ganz meinerseits. Wie war die Reise?“
„Entsetzlich. Wir brauchen dringend eine Regierung, die Recht und Ordnung wiederherstellt“, antwortete Joseph.
Edith hatte nicht vor, sich auf eine politische Diskussion einzulassen; davon würde es am Abend ausreichend geben. Deshalb fragte sie: „Bist du müde? Julius hat darauf bestanden, dass ich dir zu Ehren heute Abend einen Empfang gebe.“
Joseph verdrehte die Augen. „Er lässt wirklich keine Gelegenheit aus, um Geschäfte zu machen.“
Sie strafte ihn mit einem vernichtenden Blick. „Es ist Männern wie meinem Gemahl zu verdanken, dass Deutschland nicht völlig im Chaos versinkt. Er arbeitet Tag und Nacht, um die Bevölkerung mit Bargeld zu versorgen.“
„Er ist schließlich ein Jude, nicht wahr?“
„Das stimmt nicht. Er ist Protestant, genau wie du und ich“, widersprach Edith. Sehr zum Verdruss seiner jüdischgläubigen Mutter war Julius am Tag seines einundzwanzigsten Geburtstags zum Christentum konvertiert.
„Es ist die Abstammung, die zählt. Und dein Mann stammt nun mal von einer langen Reihe von Juden ab, deshalb ist es nur natürlich, dass ihm das Geldgeschäft im Blut liegt.“ Joseph sah seine Schwester an. „Daran ist nichts Ehrenrühriges. Banken werden dringend gebraucht, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Du hast es selbst gesagt. Und um deine Frage zu beantworten: Nein, ich bin nicht müde. Du darfst mich gern ausführen.“
Edith lachte. Es war typisch für ihren Bruder, eine schlaflose Nacht im Zug zu verbringen und dennoch ausgehen zu wollen. Andererseits konnte sie ihn gut verstehen, denn es war sein erster Besuch in München und er würde nur wenige Tage bleiben, bevor er wieder nach Hause musste. „Julius hat mir Wagen und Fahrer für den ganzen Nachmittag zur Verfügung gestellt. Wo also möchtest du hin?“
„Na, das berühmte bayerische Bier trinken natürlich.“
„Dann müssen wir unbedingt ins Hofbräuhaus gehen.“ Julius und seine Bekannten zogen es vor, sich in den schicken Hotels oder Bars zu treffen, aber sie ging davon aus, dass ihrem Bruder etwas Bodenständiges lieber war. Im Hofbräuhaus wurde angeblich das beste Bier in ganz Bayern gebraut und obendrein Volksmusik gespielt. Beim Wagen angelangt, bat sie den Fahrer, sie zum Platzl zu bringen.
Wenige Minuten später hielten sie vor einem riesigen Gebäude mitten im Zentrum von Münchens Altstadt. Davor stand ein von Pferden gezogener Wagen, der mit zehn riesigen Holzfässern beladen war.
Scherzend rief Joseph: „He, das Bier bleibt hier, ich sterbe vor Durst.“
„Es wird schon noch genug für dich da sein“, antwortete Edith und bedeutete ihm, ihr nach drinnen zu folgen. Zu dieser Tageszeit war es recht leer, sodass sie sich einen freien Tisch aussuchen konnten und sich für eine Ecke in der eindrucksvollen Bierhalle entschieden.
„Das Ding ist ja riesig!“
„Ja, in der Schwemme, wie die Halle hier im Parterre genannt wird, haben etwa dreizehnhundert Gäste Platz.“
„Unglaublich. Kommst du oft her?“
„So gut wie nie. Und wenn, dann nutzen wir einen der Räume, die nicht für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich sind, wie den Festsaal oder den Wappensaal.“
„Also, ich bleibe lieber bei den normalen Leuten“, erklärte Joseph. „Genau wie Hitler. Er ist ein wahrer Anführer. Geht immer dahin, wo die kleinen Leute sind und versteckt sich nicht in irgendwelchen schnieken Hotels, um Champagner zu schlürfen.“
„Heute reden wohl alle von ihm.“ Edith erinnerte sich an ihr morgendliches Gespräch mit Julius.
„Er wird ja auch immer beliebter. Endlich mal ein Politiker, der sich wirklich ums Volk schert. Wusstest du, dass er erst vor Kurzem seine eigene Partei gegründet hat, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei? Sie hat schon fünfzigtausend Mitglieder“, sagte Josef mit stolzgeschwellter Brust, was keinen Zweifel daran ließ, dass er dazugehörte.
„Lass uns nicht über Politik reden. Erzähl mir lieber, wie es der Familie geht.“ Sie sehnte sich danach, etwas über ihre Eltern und ihre anderen beiden Geschwister, Carsta und Knut, zu erfahren.
Joseph kam ihrem Wunsch nach. Wie die meisten Nicht-Bayern war er es nicht gewohnt, eine ganze Maß Bier zu trinken. Nach dem ersten Humpen tat der Alkohol seine Wirkung und Josef wurde gesprächig. „Hier gefällt es mir. Vielleicht bleib ich eine Weile in München.“
„Wie das?“ „Es ist noch nicht offiziell, aber ich hab da was in der Mache“, antwortete er ausweichend.
„Eine neue Stelle?“ Bis vor Kurzem hatte er als Fahrer für die Berliner Straßenbahn gearbeitet, doch dann hatte der kommunale Betrieb aufgrund der schlechten Wirtschaftslage und der horrenden Elektrizitätskosten Bankrott anmelden und alle Angestellten entlassen müssen. Zwar hatte der Nachfolger, ein Privatunternehmen, circa die Hälfte von ihnen wieder eingestellt – mit weniger Gehalt bei längeren Arbeitszeiten –, doch Joseph hatte nicht zu den Glücklichen gehört.
„Wahrscheinlich.“
Da er offensichtlich keine weiteren Auskünfte geben wollte, wechselte sie das Thema. „Was ist mit deiner Familie? Kommt sie auch her?“
„Erst einmal noch nicht. Sandra ist mit den Kindern zu ihren Eltern aufs Land gezogen, bis sich die Situation in Berlin verbessert.“ Joseph biss den Kiefer zusammen.
„Oh, das tut mir leid. Diese Entscheidung ist euch sicher nicht leichtgefallen, aber ich schätze, ihr müsst tun, was für die Kinder am besten ist. Ich habe so viele schreckliche Geschichten über hungernde Menschen in den Großstädten gehört.“
Joseph wollte offensichtlich nicht über seine Ehe sprechen, denn mit einem Mal schien er sich sehr für das Orchester auf der Bühne zu interessieren. Edith biss sich auf die Lippe, da sie nicht sicher war, ob sie nachfragen oder lieber das Thema wechseln sollte. Schließlich entschied sie sich für etwas dazwischen. „Vielleicht kann Julius helfen. Du hättest ihn fragen sollen.“
Joseph sah wieder zu ihr. „Ich bin nur ungern von der Wohltätigkeit meines Schwagers abhängig. Deshalb habe ich mit meinem Besuch gewartet, bis ich ihm auch etwas anbieten kann.“
Ediths Neugier war geweckt, und sie hoffte, er würde weiter ins Detail gehen. Doch Joseph zeigte keine Bereitschaft, mit der Sprache herauszurücken, sondern nahm stattdessen einen langen Zug von seinem zweiten Bier. Sie erkannte, dass sie besser nicht nachbohrte. Männer ließen sich nicht gerne löchern, wenn es um Dinge ging, die sie als Männersache betrachteten.
Schließlich brach er das Schweigen: „Aber erzähl mal von dir. Bist du endlich wieder schwanger?“
Innerlich versteifte sich Edith. Diese Frage war aus so vielen Gründen ein wunder Punkt. Sie hasste, dass jeder nachfragte, warum es so lange dauerte und wieso sie Julius noch nicht den Erben geschenkt hatte, den er sich so sehr wünschte.
Scheinbar dachten alle, es sei ihre Schuld, dass sie fünf Jahre nach der Hochzeit immer noch kein Baby zur Welt gebracht hatte. Was wussten sie schon über den entsetzlichen Kummer, den der Verlust zweier ungeborener Kinder gekoppelt mit Julius’ zunehmend distanziertem Verhalten mit sich brachte?
Vor einem Jahrzehnt, im zarten Alter von sechzehn, hatte sie ihn, den Mann von Welt, bei einer Tanzveranstaltung kennengelernt und sich auf der Stelle in ihn verguckt. Sie hatte ihr Glück kaum fassen können, dass jemand wie Julius Falkenstein Gefallen an ihr fand.
Leider war ihre junge Liebe durch den Ausbruch des Kriegs jäh unterbrochen worden, als er der Armee als Offizier beigetreten war, um für sein Land zu kämpfen. Dennoch hatte sich ihre Liebe über die Jahre der Trennung vertieft, und kaum war er 1918 zurückgekehrt, hatten die Hochzeitsvorbereitungen begonnen. Hätte sie doch damals gewusst, wie einsam es als Gemahlin von Julius Falkenstein sein würde.
„Du erfährst es als einer der Ersten.“
„Ach, sei nicht traurig, kleine Schwester. Gott schenkt all jenen Kinder, die es verdienen, und du hast es mehr als verdient.“
Sie hoffte, er hatte recht. Ein Kind zu haben, um das sie sich kümmern konnte, gäbe ihrem Leben endlich einen Sinn.